Disco Elysium: Ein düster-psychologisches Meisterwerk

Steh auf, Reisender. Löse dich aus der Apathie deiner eigenen Wände. Die Welt hat aufgehört zu tanzen. Und doch – siehe dich doch nur mal einer an. Hast dich für sie herausgeputzt und deine schönsten Disco-Schuhe übergestreift. Du willst ihn – deinen großen Tanz, den digitalen Boogie. Du leckst dir über deine rauen Lippen, deine Hände zittern leicht. Jetzt heißt es alles oder nichts, Reisender. Der Zug hat sich unaufhaltsam in Bewegung gesetzt. Springst du auf? Folgst du dem Blues? Oder bleibst du zurück am dunklen Gleis deines eigenen, angstvollen Lebens? Umhüllt von den Echos all der Erfahrungen, die dir  für immer entgangen sind…
So ungefähr würde sich die Einleitung zu diesem Blogbeitrag lesen, wenn die Autoren von Disco Elysium ihn geschrieben hätten. Klingt kryptisch, düster, melancholisch und verlockend? Auf genau diese Reise könnt ihr euch einstellen, wenn ihr die Welt dieses herausragenden Meisterwerkes zu betreten wagt. Doch seid gewarnt – niemand garantiert euch, dass ihr da heile wieder heraus kommt. Oder bei klarem Verstand. 

Bloß nicht den Verstand verlieren!

Die Ausgangslage ist schnell erklärt. Du wachst in einem verwüsteten Motelzimmer mit einem mörderischen Kater auf und hast keine Ahnung, wer du bist oder was genau passiert ist. Schnell findest du heraus, dass man dich offenbar für einen Polizei-Detective hält, der aufklären soll, was es mit der von einem Baum baumelnden Leiche im Hinterhof auf sich hat. Zumindest ist dein Partner in der Motellobby dieser Meinung. Du selbst bist dir da nicht so sicher. 
 
Disco Elysium - Gameplay Showdown-Schießerei
Bild: Bei Disco Elysium geht es nicht um Action. Jedoch werdet ihr oft vor richtig harte Entscheidungen mit ungeahnten Folgen gestellt. 
Der Clou an der Geschichte ist, dass man als Spieler nicht nur einen Kriminalfall zu lösen hat. Dabei ist die Geschichte genial geschrieben. Vergesst Columbo oder Sherlock Holmes – wie dieser Fall ausgeht, erratet ihr nie. Der zweite Strang der Handlung bist du selbst. Denn zusammen mit Details zum Fall erfährst du auch Details zur Spielwelt, an die du dich ebenfalls nicht erinnern kannst. Stück für Stück entfalten sich vor dir politische Zusammenhänge, geschichtliche Hintergründe, die wahren Motive der Charaktere und natürlich auch dein eigener Platz in all dem Schlamassel. Dabei wird es schon mal abstrakt und ihr philosophiert nicht nur über die mögliche Mordwaffe, sondern die Unendlichkeit, das eigene Sein oder Metaphysisches.
 
Die großartigen Dialoge (und daraus besteht der Großteil des Spiels) führst du nicht nur mit anderen Charakteren, sondern auch mit dir selbst. Genauer gesagt mit diversen Teilen von dir. Wie in einem Rollenspiel vergibst du Punkte für besondere Sinne, die deine Wahrnehmung auf die Welt deutlich verändern. Ein aufmerksamer Charakter entdeckt kleine Details, Allgemeinwissen klärt dich über diverse Hintergründe auf, körperliche Stärke macht dich zu einem selbstbewussten Gesprächspartner, der auch mal eine Tür eintreten kann oder sich seine Informationen mit einer Schelle besorgt. Doch auch weniger offensichtliche Eigenschaften wie „Gänsehaut“ oder „Esprit de Corps“ lassen dich entweder die mystischen Facetten deiner Umgebung wahrnehmen (was auch mal dazu führen kann, dass du mit Wänden sprichst) oder den Geist des Polizeikorps stets vor dir hast, was dir bei den Entscheidungen helfen aber auch einengen kann. 
 
Keine der Eigenschaften ist gut oder schlecht. Bist du nicht autoritär genug, können andere Charaktere dich respektlos behandeln. Zu viel Autorität und du riskiert den Größenwahn. Und auch der Wahnsinn lauert stets breit grinsend in den Schatten. Noch nie hatte ich das Gefühl, von einem Rollenspiel so wenig von meiner Auswahl eingeengt zu werden. Die Welt biegt sich um dich herum, passt sich deiner Wahrnehmung an, spielt sich durch dich so wie du es möchtet. Es macht wahnsinnig viel Spaß mit der eigenen Wahrnehmung zu experimentieren und zu schauen, was es mit euch und der Welt um euch herum anstellt. 
 
Disco Elysium Charakterbogen
Bild: Der Charakterbogen ist ein Kernelement des Spiels, der deine Wahrnehmung der Spielwelt radikal verändert. Kategorien wie richtig oder falsch spielen hierbei keine Rolle

Wer bin ich und wenn ja – wie viele?

Stück für Stück setzt ihr den Fall, dein eigener Verstand und die Welt um dich herum zusammen. Nur zögernd gibt Revachol seine Geschichte preis. Da du keine Erinnerung und damit kein Selbstverständnis hast, bist du auf eine einmalige Art und Weise frei. Du kannst die Rolle des Detectives annehmen, sie jedoch auch leugnen. Während der Dialoge schaltest du bestimmte Gedankengänge frei, die dich darüber sinnieren lassen, ob dir der Kommunismus, Liberalismus oder gar Nationalsozialismus als eine gute Idee erscheint. Ob du dich deiner Vergangenheit stellen willst oder nur verbrannte Erde zurücklasst. 
 
Der melancholische Soundtrack ist ebenfalls ganz großes Kino.
 
Alkohol und Drogen spielen ebenfalls eine entscheidende Rolle. Diese können eurem süchtigen Körper und Geist zwar den richtigen (und oftmals bitternötigen) Extrakick verleihen, wirken sich jedoch erwartungsgemäß negativ auf dich und deine Umwelt aus. Den Ausgang kannst du nur erahnen.
 
Die Dialoge sind im kürzlich erschienen Update, dem „Final Cut„, nun komplett eingesprochen und auch hier haben sich die Sprecher*innen selbst übertroffen. Das Ganze atmet eine Film Noir Atmosphäre, die man mit dem Messer schneiden kann. Auch weitere Charaktere und Details wurden hinzugefügt, was mich sofort dazu motiviert hat, wieder nach Revachol aufzubrechen. 
Disco Elysium Container bei Nacht
Bild: Es gibt keine Horrorelemente, jedoch atmet das ganze Setting von Revachol das Echo eines längst vergangenen Krieges. 

„Computerspiel“ wird der Sache nicht gerecht

Was ist Disco Elysium? Formal gesehen ist es ein Computerspiel. Konkreter: Ein Detective RPG, ein Rollenspiel. Doch betritt das estländisch-britische Entwicklerstudio ZA/UM so viele neue Wege, verflechtet so viele kreative Höchstleistungen zu einem Ganzen, dass ich nicht anders als von ganz großer Kunst sprechen kann. Wenn Konzept, Dialoge, Musik, Artwork und Design dermaßen stimmig ineinandergreifen, die Spielwelt einen verschlingt, überrascht, empört, nachdenklich stimmt und am Ende mit einer Gänsehaut am ganzen Körper zurück lässt, kann man sich sicher sein Zeuge etwas ganz Großen gewesen zu sein. Und genau so ging es mir nach dem ersten Durchlauf. Lasst euch diese Erfahrung nicht entgehen!

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